Der Calmont - Im steilsten Weinberg Europas werden Winzer zu Alpinisten

Von Dr. Michael Winter

Fährt man von Traben-Trarbach und Zell auf der linken Moselseite flussabwärts, dann steht man bald hinter dem Ort Bremm vor einer himmelhohen Wand. Die Idee, hier Wein anzubauen, ist so seltsam wie der Gedanke, Weingärten an Kapstadts Tafelberg anzulegen.

Dennoch wird der Calmont seit Jahrhunderten von Winzern bewirtschaftet, die vor allem Bergsteiger sein müssen. In diesem Südhang steht die Sonne auch noch im September und Oktober im Winkel von fast neunzig Grad auf den Reben. Das bedeutet Weinqualitäten wie südlich der Alpen. Ein mediterraner Riesling fast an der Nordgrenze des Weinbaus in Europa.

Flachlagen, Erntemaschinen, Massenweine, Bus- und Sauftourismus sowie die Billigkonkurrenz aus Südeuropa und der Südhalbkugel hatten dem Steillagenriesling an der Mosel und besonders im Calmont den Garaus gemacht. Noch vor zehn Jahren waren die oberen Hanglagen fast vollständig verbuscht. Die Trockenmauern verfielen. Das hat sich jetzt geändert.

Bergstiefel, sagt Ulrich Franzen, wären schon gut, wenn man hier arbeitet. Der Winzer aus dem Ort Bremm ist einer derjenigen, die als erste dabei waren, als es hieß „Rettet den Calmont!“. Sein Vater habe nur den Kopf geschüttelt und alle anderen im Dorf auch. Der Ruf „Rettet den Calmont“ stand am Beginn einer intensiven Zusammenarbeit von Winzern, Bürgermeistern, Touristikern sowie rheinland-pfälzischen Landesbehörden. Eine einmalige Aktion von einem halben Dutzend Männern und Frauen, die jetzt auf dem Parkplatz unter der Eisenbahnbrücke von Ediger-Eller stehen und auf die Monorackbahn warten.

Beim Anblick des Vehikels stockt einem der Atem. Die Einschienzahnradbahn mit mehrfacher Bremssicherung, gezogen von einem starken Dieselmotor ist ein Patent aus Japan, das man für die Arbeit in den Reisterrassen ersann. Die europäische Variante wird in der Schweiz gebaut. Ohne das Transportgefährt wäre die Knochenarbeit im Steilhang nicht mehr möglich. Der Wagen für die Traubenkörbe kann auch drei Personen befördern. Man steigt in eine Position, wie sie sonst nur in einer Raumkapsel eingenommen wird und versucht ein gelassenes Gesicht zu machen. Es ist, als ob man sich auf einen Stuhl setzt, der mit der Rückenlehne am Boden liegt. Die Knie sind der höchste Teil des Körpers und die Kniekehlen klammern sich an der Sitzkante fest. Im Steilhang mit mehr als 70 Prozent Steigung auf dem schmalen Zahnradsteg kommt der Kopf wieder nach oben, durch den weiterhin Misstrauen schießt. Die Fahrt geht in den Weltraum jener Weinlagen, die vor Jahren noch als verloren galten. Wer wollte hier absturzgefährdet unter Einsatz seines Lebens ein paar Trauben ernten? Inzwischen wachsen im Calmont wieder einige der besten Rieslinge Europas heran.

Es war vor allem eine jahrelange Überzeugungsarbeit, sagt Bernd Ternes, Geschäftsführer des Fördervereins „Calmont-Region e.V.“ Und langjähriger Mitarbeiter im ehemaligen Kulturamt Mayen, das inzwischen nach einer Strukturreform der Verwaltung zum „Dienstleistungszentrum ländlicher Raum“ mit Sitz in Mayen (DLR) umstrukturiert wurde und auch zuständig für den Landkreis Cochem-Zell ist.

Wir stehen an einem Aussichtspunkt, von dem aus man die Orte Ediger-Eller und Bremm und die gegenüberliegende Landzunge übersehen kann, die durch die engste aller Moselschleifen gebildet wird. Man muss sich über den Abhang beugen, um den Fluss zu sehen, der Hunderte von Metern unter uns liegt – und dazwischen die steilsten Weinberge Europas.

Es war gar nicht so einfach, erzählt Wolfgang Wabnitz, der ehemalige Leiter des Kulturamts Mayen, die Grundeigentümer dazu zu bringen, ihre zum Teil ungenutzten Miniparzellen zugunsten eines effizienten Weinbaus zu verkaufen. Wir haben Monate lang bei den Omas von Winzerfamilien am Ofen gesessen und versucht, alle zu überzeugen, erzählt Bernd Ternes, denn zum Verkauf zwingen kann man niemanden. Schließlich verkauften 42 Eigentümer, und 70 zusammenhängende Parzellen blieben übrig. Das war die Grundlage für die Rettung des Calmont.

Jetzt geht‘s erst richtig los in die Wand! Sagt Heinz Berg, der Bürgermeister von Bremm und selbst Winzer. Wir stehen vor einer Felswand, die unbezwingbar erscheint. In den Schiefer sind Haken eingelassen, an denen Stahlseile hängen. Die Klettertour wird alpin. Es geht über Leitern und Querwege, bei denen der Schuh nur zur Hälfte Boden hat. Bei besonders prekären Passagen zieht einen der Bürgermeister mit einem kurzen Ruck nach oben. Der Deutsche Alpenverein hat zusammen mit den Winzern im Calmont einen Klettersteig eingerichtet, der inzwischen zahlreiche Touristen anlockt. Gibt es in dieser Landschaft besseres, als den Weinbau mit dem Tourismus zu verknüpfen und zu erreichen, dass sich Weinbau und Tourismus gegenseitig unterstützen?



Auf dem Calmont-Klettersteig mit Blick auf Bremm und die Klosterruine Stuben Foto: Hubert Müllen

An einem sonnigen Tag Ende Oktober sind im Hang immer noch weit über zwanzig Grad und man kommt schwitzend zum nächsten Aussichtspunkt. Von hier aus hat man den Blick in eine Kaule. So werden die Einschnitte genannt, die sich von Felsrippe zu Felsrippe schwingen und die Sonnenstrahlen bündeln. Im Sommer sind weit über fünfzig Grad im Berg, erzählt Ulrich Franzen. Die Reben stehen in Reihen quer zum Hang. Die Wurzeln gehen oft bis zu zehn oder zwanzig Meter tief und zapfen dort Wasseradern an. Je länger die Wurzel, desto intensiver saugt die Pflanze Mineralien aus dem Schieferboden.  Und das schmeckt man später im Wein. Künstlich kann man diesen einmaligen Rieslinggeschmack nicht erzeugen.

Wir verkosten auf einem Felsvorsprung mit Blick auf die Klosterruine Stuben Franzens „Calidus mons“ von 2005. Was bleibt einem anderes übrig, als sich selbst einen Weinberg zu kaufen, sagt Wolfgang Wabnitz, wenn seine Flaschen nicht mehr bezahlbar sind. Eine Flasche von Franzens Spitzenwein kostet ab Weingut 27 Euro. Ein stolzer Preis und ein Wein, der wie ein Abenteuer über die Zunge flitzt. Dann schauen Sie mal, was wir hier gemacht haben, sagt Ulrich Franzen und zeigt Fotos. Vor ein paar Jahren war hier Brombeergestrüpp. Da kam man nur mit der Motorschere durch, und dann musste man die Wurzeln ausgraben. Von Hand. Der linke Fuß steht zwanzig Zentimeter tiefer als der rechte. Und dann die Weinstöcke einpflanzen, die alten Trockenmauern wieder aufbauen. Alles zuerst ohne Zahnradbahn.

Natürlich hat Franzen auch Weine ab 8 Euro, die ebenfalls köstlich sind. Wir wollen, dass die Flaschenpreise um die 10 Euro für die Calmontlagen pendeln. Hervorragende Weltqualität hat ihren Preis. Mit Billigprodukten wollen sich die Winzer nicht mehr abgeben. Trotzdem hat sich Wolfgang Wabnitz mit vier Freunden einen eigenen Weinberg gekauft. Was gibt es besseres für einen künftigen Rentner, um fit zu bleiben, meint er und schwingt sich auf die Monorackbahn.

Später werden wir auf der anderen Flußseite im Inneren der engsten Moselschleife in der Klosterruine Stuben sitzen zwischen gotischen Rohmauern ohne Dach und durch die offenen Fenster und die fehlende Westfassade auf den Calmont schauen, der wie eine grüne Leinwand vor dem Gebäude hängt. Und wir werden die mobile regionale Küche vom Chefkoch des Restaurants Christoffel aus Ediger-Eller kosten, der auf Wunsch bei Hochzeiten, Geschäftsessen und Konzerten alle möglichen kulinarischen Genüsse hierher transportiert. Die Kirchenruine von Kloster Stuben ist vielleicht einer der originellsten Schauplätze für ein Dinner an einem warmen Sommerabend, den man sich denken kann.

Dem Kletterer im Calmont mag es egal und obendrein nicht leicht durchschaubar sein, was Verwaltungsbehörden gemeinsam mit den Bürgern leisten können. Der Bürger kennt sonst vor allem Klagen über zu viel Verwaltung. Aber niemand weiß, was Landesbehörden mit einem längeren Atem als von Anteilseignern abhängige Unternehmen im Stillen tun können. Der Calmont ist ein Beispiel für die Rettung einer Kulturlandschaft und einer Geschmacksnuance auf der Zunge mit Unterstützung der Verwaltungsbehörden und ihrer engagierten Mitarbeiter, sagt Hubert Müllen von der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Rheinland-Pfalz (ADD), der oberen Landesbehörde, die das Projekt betreut und mit Fördergeldern unterstützt hat. Da kann man natürlich fragen, was das bedeutet.

Geschmack ist leichter auszulöschen als Sprache. Beides findet auf der Zunge statt. Einer industriellen Globalisierung des Geschmacks setzen die Winzer, die den Calmont wieder beleben und andere regionale Winzer, die ihre Produkte in den besten Lagen sorgfältig ausbauen und selbst vermarkten, ihre unbequemen terroirbezogenen Anbaumethoden entgegen, um unverkennbare, auf der Welt einmalige Weine herzustellen. Es geht dabei nicht allein nur um Weinbau und Tourismus, sondern um ein Beispiel dafür, wie man die gleichmachende Globalisierung erfolgreich unterläuft und kulturelle regionale Vielfalt erhält.

Und wenn man weiter fragt, was das bedeutet, bekommt man, wenn einem noch genug Luft dazu bleibt, beim Klettern im Calmont eine Antwort.

© Dr. Michael Winter, 20.10.2006


Hinweis: der Text ist in anderer Form später in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen.